59. Sängerlohn

[312] 15. Januar 1795.


Einer.


Ein neues Lied, ihr wackern Brüder,

Erschall am Becher froh umher!

Zu altem Weine neue Lieder

Begehrte Pindar und Homer!

Ein altes Lied, zu oft gesungen,

Entfliegt gedankenlos den Zungen;

Und Geist und Seele bleiben leer!


[312] Alle.


Das waren Griechen!

Wir Deutschen siechen

Am Neid, am Neid!

Gehaßt wird neue Trefflichkeit!


Einer.


Von Künstlern nur ward Kunst gerichtet:

Ob wahr in Farbe, Stein, Metall

Gebildet sei, ob wahr gedichtet

In Wort, Gesang und Tanz und Schall.

Ich lerne nicht von euch, Athener;

Ihr lernt von mir! so strafte jener;

Und Beifall klatscht' ihm überall.


Alle.


Das waren Griechen!

Wir Deutschen siechen

Am Neid, am Neid!

Hier meistert jeder lang und breit!


Einer.


Zum Götterfest, zur Siegesfeier,

Zum Mahle ward Gesang gesellt.

Der frohe Weise sang zur Leier,

Zur Leier sang der frohe Held!

Gesang war Spiel und Rat der Jugend;

Gesang erweckte Männertugend

In Land und Meer, in Haus und Feld.


Alle.


Das waren Griechen!

Wir Deutsche siechen

Am Neid, am Neid!

Uns heißt Gesang Verderb der Zeit!


[313] Einer.


Der Geist, durch Eintracht edler Künste,

Ward nicht gelehrt nur, auch ergötzt.

Was edler schuf, nicht was Gewinste

Des Leibes brachte, ward geschätzt.

Des weisen Sängers holden Tönen,

Zum Dank des Guten und des Schönen,

War Ehr' und hoher Lohn gesetzt.


Alle.


Das waren Griechen!

Wir Deutschen siechen

Am Neid, am Neid!

Nur Klang des Geldes nützt und freut!


Einer.


Der weise Sänger kam erfreulich

Des Hauses Vätern und des Lands;

Vor Göttern selber saß er heilig

Auf hellem Stuhl, im Lorbeerkranz.

Der Himmel Stolz, des Volkes Ehre,

Gewann er Tempel und Altäre,

Verherrlicht zum Heroenglanz.


[314] Alle.


Das waren Griechen!

Wir Deutschen siechen

Am Neid, am Neid!

Kaum loben wir noch Grabgeläut.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 49, Stuttgart [o.J.], S. 312-315.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Feldblumen

Feldblumen

Der junge Wiener Maler Albrecht schreibt im Sommer 1834 neunzehn Briefe an seinen Freund Titus, die er mit den Namen von Feldblumen überschreibt und darin überschwänglich von seiner Liebe zu Angela schwärmt. Bis er diese in den Armen eines anderen findet.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon