La Blanche Nef

[166] »Herr König, ich bin Steffens Kind,

Der den Erobrer einst geführt!

Es ist ein Lehn, daß mein Gesind,

Mein Schiff allein den König führt!
[166]

Voraus den schnellsten Seglern fliegt

Mein Boot, La Blanche Nef genannt,

Es weiß, wo sichre Tiefe liegt,

Es furcht das Meer, es kennt den Strand!«


– »Nicht mich, doch meinen besten Hort,

Vier Königskinder, führest du –

Sie knospen, weil mein Leben dorrt –

Die junge Normandie dazu!


Gelobe mir dein himmlisch Teil,

Gelobe mir dein männlich Wort:

Du bringst an Leib und Seele heil

Die Kinder mir nach England dort!«


– »Ich schwöre dir mein himmlisch Teil,

Ich schwöre dir mein männlich Wort:

An Leib und Seele bring ich heil

Die Kinder dir nach England dort!«


Des Schiffers geller Pfiff erscholl,

In See das Boot des Königs stach –

Ein Korb von frischen Blumen voll,

Glitt Blanche Nef, la Belle, nach.


So leichtbeschwingt wie nie zuvor,

Durchfurchte Blanche Nef die See

Mit ihrem kräft'gen Knabenflor

Und Mägdlein schlank wie Hirsch und Reh.


Die Königskinder hell und zart,

Erhöht, inmitten saßen sie,

Ringsum, gepaart in Zucht und Art,

Das Edelblut der Normandie.


Vier Stimmen sangen frisch und schön

Und hundertstimmig scholl der Chor,

Es zog das junge Lustgetön

Die Nixen aus der Flut empor.
[167]

– »Ich warne junge Herrlichkeit

Und dich, normännisch Edelblut,

Das Singen schafft der Nixe Leid

Dem freudelosen Kind der Flut!«


– »Und schaffen dem Gezücht wir Leid,

Und quälen wir das Halbgeschlecht,

Und reizen wir der Nixe Leid.

Das, Steffen, ist uns eben recht!«


Gemach verlosch das Abendrot,

Des Tages Gluten schliefen ein,

Ausbreitet über Meer und Boot

Der Mond den bleichen Geisterschein.


Die See ist wunderlich erregt.

Was wandert um des Kieles lauf?

Von Armen wird die Flut bewegt,

Beglänzte Nacken tauchen auf.


Der Steffen ernst am Steuer stand:

»Das Meer ist klar . . . doch droht Gefahr . . .«

Er deutet mit gestreckter Hand:

»Da naht sie schon, die Nixenschar!«


Umklammert hält den schrägen Mast

Ein blanker Leib als Schiffsfigur,

Daß Blanche Nef, von Graun erfaßt,

In wilder Flucht von dannen fuhr.


– »Ich warne junge Herrlichkeit,

Vergeßt die Nachtgebete nicht!«

– »Ei, Steffen, Kind der alten Zeit,

Süß herzt es sich im Mondenlicht . . .«


Es klimmt und überklimmt das Bord,

Es läßt sich nieder aus den Taun,

Es kichert wie ein freches Wort,

Es schaudert wie ein lüstern Graun . ..
[168]

Es reizt, es quält, es schlüpft, es schmiegt

Sich zwischen Edelknecht und Maid,

Bis sich das Paar in Armen liegt

Zu früher Lust, zu Tod und Leid . . .


Dem Steffen steigt das Haar. Er starrt

Auf ein gespenstig Bacchanal:

Die Königskinder, hell und zart

Verblühen all im Mondenstrahl.


»Verloren geht mein himmlisch Teil,

Gebrochen ist mein männlich Wort:

Nicht bring an Leib und Seele heil

Die Kinder ich nach England Dort!


Stirb, Blanche Nef! Bevor es tagt!

Im Wasser weiß ich hier ein Riff . . . «

Er dreht das Steuer stracks und jagt

Der Klippe zu das Sündenschiff.


Der König lauscht zurück: »Das scholl

Wie Sterbeschrei!« Klar ist der Sund.

Ein Korb von welken Blumen voll,

Sinkt Blanche Nef zum Meeresgrund.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 166-169.
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