An Frau Ida Freiligrath

[147] Albumblatt von 1846


So ist es doch betrübt zu klagen,

Wenn deutsche Mütter den Rhein hinab,

Hinab und über des Meeres Grab

Die zarten Wickelkindlein tragen

Nach freier Länder Gestaden hin,

Indes die Männer auf weiten Wegen,

Getrennt, bekümmert zum Ziele fliehn!

Ich streue meinen leichten Segen,

Fast trauernd, in dein Frauenherz:

Fahr glücklich denn rheinniederwärts

Und finde Leut in allen Reichen,

Die gute Milch dem Kindlein reichen,

Und auf den Schiffen, wenn es schreit,

Ein Publikum, das ihm verzeiht!

Des Reimes wegen, als ein Schweizer,

Wünsch ich dir einen nüchternen Heizer,

Der da vorsichtig, sanft und lind

Das Schiff dich tragen läßt mit dem Kind.[147]

Ich wünsche, daß alles, was sehenswert,

Die schönste Seite zu dir kehrt,

Vor deinen Fuß frisch Rasengrün,

Dem Auge freundlicher Sterne Glühn,

In deine Hände weißes Brot

Und alle Tag Morgen- und Abendrot!

Derweil sei deinem Mann der Wein

Allüberall süß, stark und rein!


Und weil die Guten dieser Erden

Noch lange Tage wandern werden,

So mache die Ferne das Herz euch satt

Mit allem Besten, was sie hat!

Sie fülle freundlich euch die Truh

Und geb euch leichte Sorgen am Tag,

Des Abends Nachtigallenschlag,

Zur Nachtzeit aber die goldene Ruh;

Des Sommers Frucht, des Frühlings Zier,

In England immer vom besten Bier,

Den Fisch im Wasser, den Vogel der Luft,

Nur keinen Boden zu einer Gruft:

Denn in der Heimat sollt ihr sterben

Und euren Kindern die Freiheit vererben!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 147-148.
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