Anne-Marie

[274] Sie zog mit kleiner Habe

Zum reichen Bauern hin,

Doch manche schöne Gabe

Hat ihr Natur verliehn.


Des Hofes jungem Erben

Lacht sie in's Herz hinein;

Und lieber will er sterben,

Als eine And're frei'n.


Der harte Vater schmähet

Und treibt die Magd hinaus;

Wie auch der Jüngling flehet,

Die Maid verläßt das Haus.


Sie dient im Nachbarhause

Um kärglichen Gewinn,

Und Nachts aus armer Klause

Schaut sie zum Hofe hin.
[275]

Der breitet weit und düster

Vor ihrem Blick sich aus.

Der Birnbaum und die Rüster

Verdecken schier das Haus.


Und wenn ein trübes Leuchten

Sich durch die Zweige bricht,

Dann reiche Thränen feuchten

Das stille Angesicht.


Im Herzen nagt der Jammer,

Zernagt des Lebens Kern.

Bald trägt zur armen Kammer

Der Priester Gott, den Herrn. –


Als Braut des Bauernsohnes

Verschmäht, du arme Maid,

Bist werth du nun des Thrones

Der höchsten Herrlichkeit.


Er, aller Himmel König,

Hat dich zur Braut erwählt;

Ihm bist du nicht zu wenig,

Er hat sich dir vermählt.
[276]

O, lache nun der Thränen,

Die thöricht du geweint,

Als noch dein krankes Sehnen

Den Erdensohn gemeint.


O, schlage hoch die Schwingen,

Die mild der Tod befreit:

Du sollst nun aufwärts dringen

Zum Thron, der dir bereit. –


Die Glocken festlich läuten,

Die Jungfrau'nkerze scheint,

Geschmückt die Träger schreiten,

Und manches Auge weint.


Die Priester milde beten

Und gehn dem Zug voran,

Und die Gespielen treten

Im Feierkleid heran.
[277]

Es schwankt vor seiner Thüre

Die Bahre hoch empor –

Ob dort wohl Einer spüre,

Daß er ein Herz verlor?


Und ist mir anders auch das Loos gefallen,

Und hab' ich deine Thränen nie geweint,

Doch will ich treu mit deinem Zuge wallen,

Den armen Deinen gern dabei geeint.


Und wenn der Priester zum Altar getreten,

Das heil'ge Sühnungsopfer Gott zu weihn,

Will ich mein de profundis fromm dir beten,

Daß froh du eingehst zu der Sel'gen Reih'n.


O bet' auch, Schwester, du mit sel'gem Munde,

Daß treu ich wandle, wie die Kirche lehrt,

Und daß mir gnadenvoll in letzter Stunde

Der Herr im Sacramente sich bescheert. Amen.

Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 274-278.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lieder (Ausgabe von 1879)
Lieder: Ausgabe von 1879
Lieder aus dem Nachlaß

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Traumnovelle

Traumnovelle

Die vordergründig glückliche Ehe von Albertine und Fridolin verbirgt die ungestillten erotischen Begierden der beiden Partner, die sich in nächtlichen Eskapaden entladen. Schnitzlers Ergriffenheit von der Triebnatur des Menschen begleitet ihn seit seiner frühen Bekanntschaft mit Sigmund Freud, dessen Lehre er in seinem Werk literarisch spiegelt. Die Traumnovelle wurde 1999 unter dem Titel »Eyes Wide Shut« von Stanley Kubrick verfilmt.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon