Gesang der Liebe als sie geboren war

[168] O Mutter halte dein Kindlein warm

Die Welt ist kalt und helle,

Und leg' es sanft in deinen Arm

An deines Herzens Schwelle.


Leg' still es wo dein Busen bebt

Und hold herabgebücket,

Harr' liebvoll, bis es die Äuglein hebt,

Zum Himmel selig blicket.[168]


Du strahlender Augenhimmel du,

Du taust aus Mutteraugen

Ach Herzenspochen, ach Lust, ach Ruh'!

An deinen Brüsten saugen.


Ich schau' zu dir, so Tag als Nacht

Muß ewig zu dir schauen

Du mußt mir, die mich zur Welt gebracht,

Auch eine Wiege bauen.


Um diese Wiege laß Seide nicht,

Laß deinen Arm sich schlingen

Und nur deiner milden Augen Licht

Laß zu mir niederdringen.


Und in deines keuschen Schoßes Hut

Sollst du dein Kindlein schaukeln,

Daß deine Worte so mild so gut

Wie Träume es umgaukeln.


Da träumt mir, wie ich so ganz allein,

Gewohnt dir unterm Herzen

Wie nur die Freuden und Leiden dein

Mich freuten und mich schmerzten.


Oft rief ich dir, komm! o Mutter komm!

Kühl' dich in Liebeswogen,

Da fühltest du dich so sanft, so fromm

Zu dir hinabgezogen,


Mit meiner Seele hielt treu und warm

Ich dich in dir umschlungen,

Und hab' dir kindisch Sorg' und Harm

In Liedern weggesungen.


Was heilig in dir zu aller Stund,

Das bin ich all gewesen

O küß mich süßer Mund gesund,

Weil du an mir genesen.[169]


So lallt zu dir mein frommes Herz,

Und nimmer lernt es sprechen,

Blickt ewig zu dir, blickt himmelwärts

Und möcht' in Freude brechen,


Bricht's nicht in Freud', bricht's doch in Leid,

Bricht es uns alle beiden

Denn Wiedersehn geht fern und weit,

Und nahe geht das Scheiden.


O Mutter halte dein Kindlein warm

Die Welt ist kalt und helle

Und leg' es leis, bist du zu arm,

Hin an des Grabes Schwelle.


Leg' es in Linnen, die du gewebt,

Zu Blumen, die du gepflücket,

Stirb mit, daß wenn's die Äuglein hebt,

Bei Gott es dich erblicket.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 168-170.
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